Häufige Fragen (FAQ)
Bestimmte Fragen werden in Gruppen und Workshops immer wieder gestellt. Sie sind im Folgenden aufgelistet und anschließend versuche ich sie kurz zu beantworten. Dabei setze ich mehr oder weniger Grundkenntnisse über Achtsamkeit und achtsamkeitsbasierte Therapie bzw. Prävention oder Beratung voraus. Es werden sicher immer wieder Fragen und Antworten hinzukommen und ich freue mich auch hier über Kommentare, Ergänzungen, Kritik.
Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit der Achtsamkeitspraxis, weil sie sich dabei anstrengen. Deshalb finden Sie nach den Fragen und Antworten noch einen Dialog zu dem Thema: Ist Achtsamkeit anstrengend?
Fragen (Sie können auf die einzelnen Fragen klicken und gelangen zu den Antworten.)
1. Wozu überhaupt Achtsamkeit? Was habe ich davon? Was ist das Ziel der Achtsamkeit? Erleuchtung?
2. Ich bin zu angespannt, um Achtsamkeit üben zu können. Haben Sie eine Idee, was ich tun kann?
4. Wie kann ich mit einer Übung beginnen?
6. Ist Achtsamkeit so etwas wie Konzentration?
7. Braucht man Disziplin, um Achtsamkeit zu lernen?
8. Ist Achtsamkeit so etwas wie Meditation?
9. Können Achtsamkeitsübungen schaden?
10. Ich möchte zwar üben, vergesse es aber immer wieder. Was kann ich tun?
12. Was ist der Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit?
13. Ist Achtsamkeit nicht dasselbe wie “gleichschwebende Aufmerksamkeit”?
14. Kann man gleichzeitig fokussierte und weite Achtsamkeit praktizieren?
15. Ist der Wechsel des Fokus oder die Erweiterung der Achtsamkeit so etwas wie Ablenkung?
17. Ist es für die Achtsamkeit wichtig, Objekte, Gefühle etc. zu benennen?
18. Wie intensiv sollte man üben? Was ist notwendig?
19. Braucht man einen Therapeuten, Lehrer etc., um Achtsamkeit zu lernen oder kann man das auch alleine?
20. Welche Voraussetzungen sollte man erfüllen, um selbst Achtsamkeit zu lehren?
21. Muss man sich für Buddhismus interessieren, wenn man sich mit Achtsamkeit beschäftigt?
22. Ist der aktuelle Hype um Achtsamkeit in der Psychotherapie nicht alter Wein in neuen Schläuchen?
23. Bedeutet Achtsamkeit Nicht-denken?
24. Was bedeutet “Hier und Jetzt”? Was ist mit “Gegenwärtigkeit” gemeint?
25. Geht es in der Achtsamkeit darum, “zu sich zu kommen” oder “bei sich zu bleiben”?
Fragen und Antworten
1. Wozu überhaupt Achtsamkeit? Was habe ich davon?
Was ist das Ziel der Achtsamkeit? Erleuchtung?
Ziel der Achtsamkeit kann Gesundheit sein oder ein gelungeneres Leben (glücklicher, umfassender, intensiver, weiser, verantwortungsvoller usw.), aber auch Erleuchtung. Die verschiedenen Ziele schließen sich natürlich nicht aus, aber es ist sinnvoll, sie zu unterscheiden, denn sie müssen nicht miteinander einher gehen oder überhaupt zusammen passen.
Mit Achtsamkeit verändern Sie Ihre persönliche gelebte Weltanschauung. Sie gehen anders mit sich (ihrem Körper, ihren Gedanken, Gefühlen, Wünschen usw.) und Ihrer menschlichen und nicht-menschlichen Umgebung um. Dadurch entsteht ein anderes Lebensgefühl. Sie werden ruhiger, gelassener, freuen sich über das, was ist und darüber, dass Sie anwesend und lebendig sind. Sie entfalten Ihre Sinne, nehmen das Selbstverständliche wieder neu und möglicherweise mit Dankbarkeit wahr, beschäftigen sich weniger mit Sorgen und Ängsten, haben mehr Vertrauen, sind weniger nachtragend, hadern nicht mit Ihrer Vergangenheit. Sie gewinnen größere Unabhängigkeit von Ihren Impulsen und Wünschen, die sie als solche würdigen und schätzen. Sie wollen nicht recht haben und sind offen dafür, Ihre Konzepte und Meinungen zu ändern. Sie werden toleranter und sehen sich weniger als Zentrum der Welt. Sie hören mehr zu, werden empathischer, wenn es möglich ist und der Andere es zulässt. Wahrscheinlich verbessern sich Ihre Art und Weise, Konflikte zu lösen oder zu lieben. Sie können Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden und auf den rechten Zeitpunkt für ein Engagement warten, Sie handeln umsichtiger und entschlossener. Möglicherweise können Sie die Vergänglichkeit alles Existierenden, Krankheiten und Tod besser akzeptieren.
Interschiedliche Aspekte der Achtsamkeit sind bei unterschiedlichen Krankehitsbildern besonders wirksam. Wie Achtsamkeit Ihnen persönlich helfen kann, psychisch gesund zu bleiben oder zu werden, kann Ihnen ein Psychotherapeut besser erklären, wenn er Ihre Probleme, ihre Geschichte und Lebenssituation kennengelernt hat. Eine kurze allgemeine Darstellung der therapeutischen Wirksamkeit der Achtsamkeit bei verschiedenen Krankheitsbildern finden Sie in dem Text “Ein pluralistisches Achtsamkeitskonzept für die therapeutische Praxis” (auf dieser Homepage unter download).
Erleuchtung ist ein Ziel spiritueller Achtsamkeit. Erleuchtung ist eine Erfahrung, keine Persönlichkeitseigenschaft. Niemand ist erleuchtet, aber viele Menschen machen mehr oder weniger häufig und lange solche Erfahrungen. In meinem Text “Erleuchtung – Erlebnis und Einsicht” (Druck in Vorbereitung, s. “Veröffentlichungen”) habe ich solche Erfahrungen dargestellt und versucht, sie zu analysieren. Eine Erleuchtungserfahrung ist mit einer intensiven, meist beglückenden und folgenreichen existenziellen Erkenntnis verbunden. Sie ist ein spezielles Sein-Können, das unser alltägliches Sein-Können überschreitet und einige existenzielle Probleme zu lösen vermag. Erleuchtung bringt aber keine ultimative, tiefere, wahrere Einsicht als andere Bemühungen um Wahrheit wie Alltagswissen, Wissenschaft oder Philosophie. Man sollte diese Erkenntisfomen weder gegeneinander ausspielen, noch zu sehr voneinander trennen. Die Interpretation der Erleuchtungserfahrung kann mehr oder sinnvoll und mehr oder weniger mit unserem sonstigen Wissen vereinbar sein.
2. Ich bin zu angespannt, um Achtsamkeit üben zu können. Haben Sie eine Idee, was ich tun kann?
Nehmen Sie bitte wahr, dass Sie gerade bewerten (“zu” ist ein gutes Kriterium für eine Bewertung) und spüren Sie dann genauer hin. Wo sind Sie angespannt? Wo etwas mehr, wo etwas weniger? Was machen die Hände, die Zehen, die Stirn, die Kiefer, die Augen, der Rücken?
Spüren Sie nur hin, entspannen Sie sich nicht aktiv, halten Sie aber die Anspannung auch nicht aktiv fest. Strengen Sie sich nicht an.
Wenn Sie an etwas Anderes denken, das nicht zu Ihrem Fokus “Anspannung” passt, dann wenden Sie die “Und-Technik” an: “O. k., ich denke jetzt an X oder ich denke `Das mit der Achtsamkeit geht jetzt nicht´…… hm, o. k. und wo spüre ich noch die Anspannung?” Oder: “Ich wäre gerne / sollte entspannt sein…. o. k…. und ich spüre in meine Stirn.”
Da Achtsamkeit bedeutet wahr- und anzunehmen, was gerade ist, spielt es keine Rolle, ob Sie angespannt oder entspannt sind, ob Sie also Anspannung oder Entspannung wahrnehmen. Es ist relativ wahrscheinlich, dass Sie über die Haltung der Achtsamkeit etwas entspannter werden, weil sie weniger aktiv sind, rezeptiver werden. Aber es kann auch sein, dass das nicht geschieht, weil es ungewohnt ist oder warum auch immer. Dann haben Sie trotzdem geübt. Setzen Sie sich grundsätzlich nicht unter den Druck, sich bei Achtsamkeitsübungen irgendwie anders oder gut fühlen zu müssen.
3. Wenn ich mich spüre, spüre ich vor allem meine Anspannung und dann werde ich noch angespannter. Was soll das?
Sie sind stark fokussiert auf die Anspannung. Erweitern Sie Ihre Achtsamkeit! Es nicht möglich, dass Sie nur angespannt sind. Z. B. entspannen Sie sicher beim Ausatmen einige Atemmuskeln und Sie können auch nicht sitzen oder gehen, die Augen bewegen oder ein halbwegs normales Gesicht machen, wenn Sie alle Muskeln anspannen. Nehmen Sie also auch (!) wahr, wo Sie gerade entspannt sind. Dabei können Sie wieder das “Und” anwenden. Das hat nichts mit Ablenken oder Entspannen zu tun, sondern nur mit weiterer Achtsamkeit. Schauen Sie was dann passiert.
4. Wie kann ich mit einer Übung beginnen?
Machen Sie sich zunächst kurz die Haltung der Achtsamkeit bewusst und entscheiden Sie sich klar dafür, diese Haltung einzunehmen. Dann ist es grundsätzlich eine gute Idee, mit dem zu beginnen, was gerade ist (und sich Ihnen vielleicht aufdrängt), also z. B. die Körperhaltung erst einmal nicht zu verändern, die Gedanken wahrzunehmen wie sie gerade sind (Setzen Sie sie dabei in Anführungszeichen!), Ihre Impulse wahrzunehmen ( z. B. die Körperhaltung zu verändern oder etwas Anderes zu tun; ohne ihnen zu folgen!). Und jetzt verändern Sie Ihre Körperhaltung, wählen Sie sich einen Fokus, eine bestimme Übung usw.
5. Achtsamkeit soll absichtslos sein, aber ich habe doch Absichten, wenn ich Achtsamkeit lernen oder achtsam sein will.
Nehmen wir an, Sie haben Hunger und entscheiden sich, etwas dagegen zu tun. Sie bereiten etwas vor und essen. Während Sie nun essen, müssen Sie sich nicht ständig bewusst machen: “Ich habe Hunger und ich esse, damit ich satt werde.” Das stimmt natürlich, ist aber erledigt und auf dem Weg. Nun essen Sie einfach und genießen mehr oder weniger ihr Essen. Wenn Sie satt geworden sind oder auch nicht oder es Ihnen nicht schmeckt, kann es sein, dass Sie sich wieder mit ihrer Absicht beschäftigen. Das macht dann auch wieder Sinn.
Mit Achtsamkeitsübungen verfolgen Sie ein Ziel und es ist gut, sich immer wieder klar zu machen, warum Sie sich um Achtsamkeit bemühen, ob Sie Fortschritte machen, ob es für Sie sinnvoll ist. Dann aber sollten Sie sich entscheiden und wenn Sie mit der Übung begonnen haben, brauchen Sie sich nicht immer weiter mit den Absichten beschäftigen, die sie mit ihr verbinden. Dann können Sie einfach hören, schauen, gehen oder einfach da sein und offen für alles, was geschieht.
Es kann natürlich sein (und ist recht wahrscheinlich), dass Ihnen Ihre Absicht immer wieder in den Sinn kommt oder Sie sich fragen “Was soll das hier gerade?” In diesem Falle entscheiden Sie, ob Sie erst einmal Ihre Absichten und den Sinn und Zweck der Übung klären wollen oder ob Sie die Übung fortsetzen wollen. Im ersten Falle, beenden Sie die Übungspraxis und finden Sie heraus, was Sie wollen. Wenn Sie sich aber für die Fortsetzung der Achtsamkeitspraxis entscheiden, kehren Sie mit einem “und” zu dem Übungsvorschlag zurück (“…..und ich achte auf mein Gehen” oder dgl.). Das “und” hilft Ihnen bei allen fokussierten Übungen von Ablenkungen jeder Art zu dem Fokus zurückzukehren. Ein rasches “und” werden Sie immer wieder gebrauchen können.
6. Ist Achtsamkeit so etwas wie Konzentration?
Es gibt eine Überschneidung zwischen Achtsamkeit und Konzentration bei der fokussierten Achtsamkeit. “Fokussiert” heißt ja, dass Sie auf etwas Bestimmtes achtsam sein wollen. Aber Sie können auch achtsam sein, ohne sich zu konzentrieren, z. B. in weiter Achtsamkeit, und vor allem konzentriert sein, ohne achtsam zu sein, z. B. wenn Sie sich sehr anstrengen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. “Flow-Zustände” haben z. B. nicht viel mit Achtsamkeit zu tun. Sie entstehen, wenn intensiv Ziele verfolgt und Probleme gelöst werden. Achtsamkeit aber ist absichtslos, passiv, beruht auf Nicht-Handeln.
In der Haltung der Achtsamkeit sollten Sie sich möglichst wenig anstrengen und auch das Ziel der Achtsamkeit nicht mit Anstrengung verfolgen. Auch eine fokussierte Praxis muss nicht anstrengend sein, wenn Sie das “und” verwenden. Sie können dann bei allen “Ablenkungen” oder “Störungen” (Geräusche. unerwartete Ereignisse, Gedanken, die sich nicht auf den Folus beziehen) leicht mit einem “und” zu ihrem Fokus zurückkehren (s. o. Antwort auf Frage 4).
Deshalb sollten Achtsamkeitsübungen auch technisch einfach sein und keine ungewöhnlichen Herausforderungen beinhalten wie tagelanges Sitzen, Fasten, komplizierte Positionen oder Bewegungsabfolgen oder dgl. Sie sollten eher kleine, leichte Experimente sein. Komplizierte Übungen bringen zuviel Absichtlichkeit ins Spiel, erzeugen einen Leistungsanspruch und erschweren dadurch die Haltung der Achtsamkeit, um die es in erster Linie geht. Alle Übungen sind nur so gut wie sie zu der Haltung der Achtsamkeit verhelfen oder helfen, sie auf verschiedene Situationen auszudehnen.
Es ist natürlich etwas Anderes, wenn Sie komplexe Praktiken (Kampfsportarten, Yoga) über lange Zeit lernen, so lange bis sie Ihnen irgendwann leicht fallen. Das kann zusätzliche Vorteile haben (Konzentration, Beweglichkeit, Verbesserung des Atems usw.), ist aber für eine erfolgreiche Achtsamkeitspraxis nicht notwendig, wenn man in erster Linie die Achtsamkeit im Alltag im Auge hat.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, dass fokussierte Achtsamkeit die Haltung der Achtsamkeit weniger realisiert als weite Achtsamkeit, denn bei der Fokussierung haben Sie immer ein Element von Konzentration. Fokussierte Achtsamkeit ist aber ein guter Einstieg, weil sie die Gegenwärtigkeit erleichtert, vor allem, wenn Sie etwas fokussieren, was Sie anzieht, fasziniert, also in eine “gefüllte Gegenwart” gehen. Mit mehr Übung sollten Sie darauf weniger angewiesen sein.
Es ist natürlich auch möglich, sich zu konzentrieren und dabei gleichzeitig achtsam zu sein, so wie wir handeln können und dabei achtsam sein – und dadurch vielleicht effektiver handeln. Aber das ist ein anderes Problem, das der Umsetzung der Achtsamkeit im Alltag und der Vereinbarkeit von Achtsamkeit und Handeln (s. dazu die Antworten auf die Fragen 10 und 11).
7. Braucht man Disziplin, um Achtsamkeit zu lernen?
Hmm, schon. Sie müssen sich zumindest immer wieder dafür entscheiden und da es ungewohnt und nicht immer spannend ist, werden Sie auch manchmal Widerstände überwinden müssen. Bei formalen Übungen müssen Sie zudem Zeit aufwenden und vielleicht denken, dass Sie sie besser für etwas Anderes gebrauchen könnten. Während der Übung sollten Sie sich aber nicht anstrengen, es ist einfach nicht notwendig (s. Antwort auf Frage 5, zu dem sehr erleichternden “und”, s. die Antworten auf die Fragen 4 und 5).
Was Sie aber in jedem Fall brauchen ist ein klares Verständnis von dem, was Sie tun wollen, Entschlossenheit und Geduld. Schließlich wäre es schön, wenn Sie mit der Zeit einfach Freude an der Achtsamkeitspraxis bekommen.
8. Ist Achtsamkeit so etwas wie Meditation?
Meditation ist schwer zu definieren. Manche Autoren halten es für unmöglich. Ich schlage folgende Definition vor:
Meditationen sind Praxisformen, die vorrangig auf existenzielle Erfahrungen und Einsichten ausgerichtet sind (Erfahrungen von Raum, Zeit, Selbst, Sorge, Endlichkeit usw.) und den alltäglichen existenziellen Horizont überschreiten. Meditative Erfahrungen können unseren Alltag beeinflussen und bereichern.
Ich denke, Achtsamkeitsübungen sind nur dann Meditationen, wenn sie eine spirituelle Erfahrung anstreben. Ich finde es daher nicht sinnvoll, alle möglichen Achtsamkeitsübungen Meditationen zu nennen. Achtsamkeitsübungen können auch eingesetzt werden, um gesünder oder glücklicher zu werden oder einfach im Leben besser zurecht zu kommen.
Allerdings wurde Achtsamkeit ursprünglich zu spirituellen Zwecken entwickelt (v. a. im Buddhismus, aber auch in anderen Religionen). Achtsamkeitsübungen sind verkleinerte, alltagstaugliche Varianten ursprünglich meditativer Praktiken. Es ist daher auch naheliegend und jederzeit möglich, sie wieder in einen spirituellen Kontext zu stellen und als meditative Übungen zu verstehen. Es kommt darauf an, welche Bedeutung Sie selbst diesen Übungen geben.
9. Können Achtsamkeitsübungen schaden?
Ich denke, alles was etwas nutzt, kann auch etwas schaden, weil jedes Verhalten zu einer bestimmten Situation passen muss, es kann nie für sich als nützlich oder schädlich beurteilt werden. Z. B. kann die Passivität der Achtsamkeit in manchen Situationen völlig unangebracht sein und für manche Menschen können Achtsamkeitsübungen zu einem bestimmten Zeitpunkt ungeeignet sein, weil sie z. B. die Neigung verstärken,Veränderungen und Auseinandersetzungen zu vermeiden oder zu verschieben.
Es kommt aber auch darauf an, wie Achtsamkeit verstanden wird. Wenn sie z. B. ausschließlich als Weg nach Innen oder als Weg zu einer absoluten Wahrheit verstanden wird, dann kann sie eher narzisstische oder autistische Züge verstärken oder zu einem elitären Selbstverständnis führen als wenn man in ihr einen Weg zu einem differenzierten Wirklichkeitsbezug und zur Offenheit für Anderes und Neues sieht.
Wenn Achtsamkeit zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden soll, ist es sinnvoll, einen Therapeuten zu Rate zu ziehen. Manche Formen der Achtsamkeit und manche Übungen können für bestimmte Menschen mit psychischen Störungen ungeeignet sein. Bei fokussierter äußerer Achtsamkeit ist dies z. B. unwahrscheinlich, bei weiter innerer Achtsamkeit schon eher möglich. Ein sinnvoll strukturiertes Vorgehen ermöglicht, die Achtsamkeit in ihrer Vielfalt zu nutzen. Wenn man keinen kompetenten Therapeuten findet, sollte man sich ausreichend informieren und – wenn möglich – ein gutes Selbsthilfebuch verwenden.
10. Ich möchte zwar üben, vergesse es aber immer wieder. Was kann ich tun?
– Überprüfen Sie Ihre Motivation. Warum wollen Sie üben? Was hat es bisher gebracht? Wie lange will ich noch
fortfahren? Brauche ich Unterstützung?
– Beginnen Sie ein Achtsamkeitstagebuch bzw. führen Sie es fort. Tragen Sie dort ein, was Sie geübt haben, vielleicht
auch kurz, was Sie erlebt haben, Gedanken, Fragen etc.!
– Ritualisieren Sie Ihre Praxis: Gleiche Zeit, gleicher Ort, gleiche Übung oder gleiche Gelegenheit (Weg zur Arbeit,
Pause am Arbeitsplatz, Blick aus dem Fenster, Áufstehen aus dem Bett, Essen usw.)!
– Oder: Verzichten Sie auf alle Ritualisierungen: Sobald Sie an Achtsamkeit denken, praktizieren Sie sie – ggf. nur für Sekunden -. Nehmen Sie keinen Anlauf, machen Sie keine Pläne, sagen Sie nicht: Ich will es versuchen! Machen Sie es einfach sofort, es geht fast immer (s. dazu auch FAQ 7). So kommen Sie rein.
– Üben Sie mit anderen Menschen!
– Nutzen Sie Erinnerungshilfen (Zettel am Spiegel, an der Haustür etc., Kalender, Handyklingeln usw.)!
– Wenn Ihre Motivation klar ist, legen Sie einfach los und haben Sie Geduld! Erwarten Sie nicht viel oder besser gar
nichts von einzelnen Übungen (konkret: Lassen Sie Ihre Erwartungen los, indem Sie sie wahrnehmen und mit einem “und” zu der
Übung übergehen / zurückkehren)!
Ich glaube, wir sind alle für weitere Ideen dankbar!
11. Ist Achtsamkeit immer angebracht oder gibt es Situationen, in denen man nicht achtsam sein kann oder sein sollte?
Achtsamkeit sollte nicht die entscheidende und dominierende Haltung sein, wenn entschlossenes Handeln oder engagierte Kritik notwendig sind. Oft ist Veränderung wichtiger als Akzeptanz. Mit Achtsamkeit alleine kann man kein sinnvolles und verantwortungsvolles Leben führen. Aber auch wenn sie in bestimmten Situationen nicht im Vordergrund stehen kann oder sollte, kann sie doch im Hintergrund weiterwirken.
Achtsamkeit und veränderndes, engagiertes Handeln sind miteinander vereinbar. Achtsamkeit kann Handlungen adäquater machen und sogar Entschlossenheit fördern, weil man sich nicht in Aktivismus verliert, sondern erfasst, was wirklich getan werden muss und weil man zu den wesentlichen Prioritäten findet. Sie kann auch helfen, den Überblick zu behalten, gelassen zu bleiben, Ressourcen zu entdecken, sich empathisch und fair zu verhalten.
Aber auch Trancezustände – wie Rausch, Ekstase, Flow-Zustände -, Dösen, Tagträumen, Versinken in Erinnerungen usw. gehören zum Leben. Achtsamkeit bringt eine Intensität des Daseins, die Sie vielleicht nicht immer wollen.
Achtsamkeit ist keine grundlegendere, wahrere Existenzform, keine Realisierung eines “wahren Selbst”, sondern einfach eine Bereicherung des Lebens und eine Erweiterung des existenziellen Horizonts.
12. Was ist der Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit?
Aufmerksamkeit bedeutet nur, dass man sich mit etwas beschäftigt, etwas wahrnimmt usw. Das kann unbewusst geschehen, wir könnenaber auch bewusst etwas in den Fokus oder in den Vordergrund rücken. All das ist Aufmerksamkeit. Achtsamkeit ist dagegen eine spezifischere Haltung, die auch Absichtslosigkeit, Nicht-Bewerten und Gegenwärtigkeit beinhaltet. Sie beruht allerdings auf unserer Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit in gewissem Maße zu lenken.
13. Ist Achtsamkeit nicht dasselbe wie “gleichschwebende Aufmerksamkeit”?
Die “gleichschwebende Aufmerksamkeit” der Psychoanalyse ist eine Form weiter innerer und (vor allem in neueren Theorien) relationaler Achtsamkeit. Der Theorie nach kann sie sogar mit Absichtslosigkeit einhergehen. Dann wäre die vollständig realisierte gleichschwebende Aufmerksamkeit evtl. identisch mit Heilung. Allerdings habe ich hier in der Praxis Zweifel, da Psychoanalytiker die Wirksamkeit der Psychoanalyse doch immer noch in ihren Deutungen sehen. Selbst wenn das reale Beziehungsgeschehen inzwischen sehr wichtig genommen wird, bleibt die Technik des Deutens m. E. doch für die Psychoanalyse wesentlich. Dann aber ist die “gleichschwebende Aufmerksamkeit” Freuds auch eine Suche nach deutbarem Material, der Psychonalalytiker ein in der Theorie möglichst unvoreingenommer und offener, in der praktischen Einstellung aber eben doch forschender Zuhörer. Freud sprach deshalb als erster von einer “wissenschaftlichen Psychotherapie”. Achtsamkeit ist aber nicht Forschung oder Erkenntnissuche. Möglicherweise treffen sich “gleichschwebende Aufmerksamkeit” und Achtsamkeit aber in der Zielsetzung, der Entwicklung der therapeutischen Beziehung durch alle Übertragungen und Gegenübertragungen hindurch zu einer Begegnung.
14. Kann man gleichzeitig fokussierte und weite Achtsamkeit praktizieren?
Ja, versuchen Sie es! Gerade als informelle Übung oder einfach als Alltagspraxis ist es sinnvoll. “Gleichzeitig” heisst hier aber eher “sehr rasch wechselnd” (“oszillierend”). Wir können so schnell zwischen verschiedenen Fokussen oder einem Fokus und der Weite wechseln, dass die Wahrnehmungen ineinander übergehen. Die einzelnen Wahrnehmungen fangen ja nicht plötzlich an oder hören plötzlich auf, sondern sie haben “Abschattungen”, entwickeln und entfalten sich, klingen nach und greifen dadurch ineinander.
15. Ist der Wechsel des Fokus oder die Erweiterung der Achtsamkeit so etwas wie Ablenkung?
Nein, im Gegenteil. Im Alltag sind wir oft von der Wirklichkeit und uns selbst abgelenkt. Wir verfolgen ein Ziel oder denken über ein Problem nach und bekommen weder Raum noch Licht um uns herum mit, noch den Kontakt unserer Füße mit dem Boden noch unseren Atem. Indem wir die Haltung der Achtsamkeit einnehmen und vor allem indem wir sie erweitern, wachen wir aus dieser Ablenkung oder gar Problemtrance auf. Wir kehren in die Gegenwart zurück, bekommen wieder Kontakt mir der Umgebung und mit uns selbst. Deshalb sprach Jeru Kabbal, ein amerikanischer Meditationslehrer, auch sehr treffend von Achtsamkeitsmeditation als “Dehypnotherapie”, Zenlehrer sprechen gerne von “Aufwachen”.
16. Was ist eine Bewertung?
Bewertungen geschehen spontan, sind unvermeidlich und völlig in Ordnung, wenn sie nicht auf Kosten des Kontakts, der genauen Wahrnehmung oder Beschreibung gehen. Bewertungen sind deshalb problematisch, weil sie Abstraktionen im Hinblick auf einen Maßstab oder einen Vergleich beinhalten und zu einer vermehrten oder verminderten Zuwendung zu dem Bewerteten führen. Deshalb sollten wir in der Haltung der Achtsamkeit Bewertungen erkennen und zum Wahrnehmen oder Beschreiben fortschreiten bzw. zurückkehren. Die Haltung der Achtsamkeit befördert die Aufmerksamkeit auf das, was wir zunächst ablehnen oder geringschätzen und schafft Offenheit für eine Veränderung der spontanen Beziehung. Nicht-bewerten ist aber nicht mit dem Verzicht auf Interpretation und Resonanz zu verwechseln. Es geht nicht darum, Menschen und Objekte möglichst neutral, elementar oder abstrakt wahrzunehmen. Viele Qualitäten von Situationen, Objekten und Menschen erschließen sich erst durch unsere persönliche emotionale Antwort.
Bewertungen erkennen Sie daran, dass sie einen Maßstab oder einen Vergleich beinhalten, vor allem aber spüren Sie, dass Sie gerne das, was gerade ist, verändern würden (ob es geht oder nicht), sie strengen sich ein wenig an. Man erkennt Bewertungen oft am Tonfall, der Körperhaltung, der Mimik. Wörter sind dagegen oft mehrdeutig: “Schön!” kann der Ausdruck einer Begeisterung sein oder auch eine Bewertung wie “endlich gelungen”.
Natürlich sind Bewertungen im Leben sehr wichtig, aber sie sind in unserer Kultur inflationär. Sinnvolle, ernst gemeinte, wertvolle Bewertungen erkennen Sie daran, dass sie zu Konsequenzen führen.
17. Ist es für die Achtsamkeit wichtig, Objekte, Gefühle etc. zu benennen?
Benennen kann oft helfen, etwas genauer zu erfahren. Mein Lieblingsbeispiel sind hier die Audioguides im Museum, die ich oft sehr nützlich finde. Andererseits sind alle Begriffe kulturell übliche Abstraktionen, die bestimmte Aspekte von Dingen etc. hervorheben. Sie schränken also gleichzeitig die Wahrnehmung ein. Daher ist es sinnvoll neben dem Benennen und verbalen Beschreiben auch die nichtbenennende averbale Wahrnehmung zu üben. Wir nehmen immer sehr viel mehr wahr als wir mit Worten beschreiben können und es ist sehr hilfreich, diese umfassenderen Wahrnehmungen bewusst zu erleben.
Die averbale Sinnlichkeit hält uns stärker in der Gegenwart als das sprachliche Benennen, weil wir von dem Benennnen auch schnell zu Bewertungen, Assoziationen etc. kommen. Die Sprache hat den Horizont des Menschen unendlich erweitert und ihm unglaubliche Überlebensvorteile verschafft. Symbole ermöglichen es, ferne Welten, abwesende Menschen, Zukunft und Vergangenheit einzubeziehen. Aber dadurch ist auch die Gegenwärtigkeit gefährdet und tatsächlich ist sie bei vielen Menschen heute in unserer so effektiven Kultur schwach ausgeprägt. Achtsamkeit versucht, sie wieder zu stärken.
18. Wie intensiv sollte man üben? Was ist notwendig?
Das hängt von Ihren Zielen, Ihren Möglichkeiten und Ihrer Motivation ab. Wenn Sie Achtsamkeit zu therapeutischen Zielen praktizieren, sollten Sie es auch ausreichend tun, um diese Ziele zu erreichen. Nach unserer Erfahrung sind 10 Min. am Tag (formale und informelle Übungen, nicht notwendig am Stück) schon sehr hilfreich und vor allem für fast alle Teilnehmer in unseren Gruppen realistisch. Wenn Sie Ihre Probleme damit beheben können, gut. Es kann aber sein, dass Sie diese Praxis fortsetzen müssen, damit die Probleme nicht wiederkehren, z. B. wenn Sie zu Depressionen neigen. Das würde z. B. eine lebenslange weitere Praxis bedeuten.
Wenn Sie Achtsamkeit erlernen, um ein glücklicheres oder erfüllteres Leben zu oder zu spirituellen Zwecken, sollte diese Praxis zu einem Teil Ihres Lebens werden und ihren Übungscharakter verlieren. Sie sind dann in ihrem Leben soweit achtsam wie es möglich ist und wie Sie es wollen (es gibt ja auch noch andere angenehme Zustände wie Dösen, Tagträumen, Rauschzustände). Irgendwann ist Achtsamkeit dann einfach Teil ihres Lebens und Sie vermissen sie rasch, wenn sie ihnen abhanden kommt. Sie werden wahrscheinlich auch Ihr Leben so ausrichten, dass Sie ausreichend achtsam sein können.
19. Braucht man einen Therapeuten, Lehrer etc., um Achtsamkeit zu lernen oder kann man das auch alleine?
Sofern es sich um Therapie handelt, s. die Antwort zu Frage (5): Ein Therapeut ist hilfreich, sofern verfügbar.
Wenn Sie auf einer spirituellen Suche sind und sich einer bestimmten spirituellen Tradition zuordnen können, ist es relativ einfach. Ein spiritueller Lehrer lässt sich vermutlich finden und er ist sicher auch in gewissem Maße nützlich. Sie sollten dann nur eine kritische Haltung bewahren.
Wenn Sie in keiner spirituellen Tradition oder Religion beheimatet sind, wird es leider schwierig. Nach meiner Erfahrung ordnen sich die meisten spirituellen Lehrer einer Tradition zu und sie sind nicht bereit, sie kritisch zu hinterfragen. Sie diskutieren nicht gerne (das Diskutieren kann man tatsächlich schnell übertreiben), neigen zu Dogmatik und schotten sich gegenüber wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion ab, manchmal sind sie auch pseudowissenschaftlich.
Es ist sicher gut, mit anderen Menschen gemeinsam zu meditieren und zu diskutieren. Ansonsten gibt es gute Literatur und manchmal hat man Glück und findet Menschen, die mehr Erfahrung mit Meditation haben. Es kann spannend und anregend sein, mit diesen Menschen zu sprechen und sich beraten zu lassen, um den eigenen Weg zu finden. Wenn man sie nicht trifft, kann man auch ohne sie die spirituelle Dimension des Lebens suchen und finden.
20. Welche Voraussetzungen sollte man erfüllen, um selbst Achtsamkeit zu lehren?
– Sie sollten in einem sozialen Beruf kompetent sein (TherapeutIn, BeraterIn, LehrerIn), denn Achtsamkeitsarbeit
ist immer nur Teil einer umfassenderen Arbeit, man muss wissen, wann sie in welcher Form für wen angebracht ist.
– Sie sollten ein klares, begründbares Achtsamkeitskonzept haben, das Kritik standhält und vermittelbar ist.
– Sie sollten sich selbst um Achtsamkeit bemühen und sie selbst praktizieren. Sie sollten auch nur Übungen weitergeben, mit denen Sie selbst Erfahrungen gesammelt haben.
Sie müssen allerdings bei Ihrer Übungspraxis nicht besonders erfolgreich sein, also nicht unbedingt ein achtsames Leben führen oder Achtsamkeit ausstrahlen. Es ist zwar erfreulich, wenn es so ist, aber das können Sie auch ihren Patienten, Klienten oder Schülern überlassen. Irgendwelche sonstigen “objektiven” Anforderungen halte ich für ausgesprochen unsinnig.
21. Muss man sich für Buddhismus interessieren, wenn man sich mit Achtsamkeit beschäftigt?
Nein, Sie müssen auch nicht Kunstgeschichte studieren, bevor Sie anfangen zu malen. Sich für die Achtsamkeitspraxis mit dem Buddhismus zu beschäftigen ist nur dann notwendig, wenn Sie aus historisch-kritischer Sicht Achtsamkeitskonzepte vergleichen und beurteilen wollen. In diesem Falle hilft einem das Wissen um die unterschiedlichen religiösen und kulturellen Einflüsse auf die Achtsamkeitspraxis und ihre Auslegungen möglicherweise im Sinne einer Vertiefung. Gerade die Beschäftigung mit Traditionen, die einen ganz anderen sprachlichen und philosophischen Hintergrnd entwickelt haben, kann die Sache selbst aber auch komplizierter machen als notwendig. Meines Erachtens lassen sich die haltbaren Probleme und Antworten oft leichter in moderner philosophischer Sprache formulieren.
“Buddhismus” ist nur ein Begriff, um verschiedene, ganz unterschiedliche Formen von Religiosität zusammenzufassen, die sich alle irgendwie auf den historischen Buddha beziehen, von dessen ursprünglichen Lehre nur wenig gesichert ist. Der Begriff “Buddhismus” wird oft monopolisert und seine Unklarheit überspielt. Dazu kommt, dass in den aktuellen Achtsamkeitskonzepten in der Regel Achtsamkeit anders verstanden wird als in den buddhistischen Traditionen, die Achtsamkeit Funktionen in einem bestimmten ethischen und spirituellen Systems zuschreiben (Förderung ethisch wertvoller Gefühle durch Aufmerksamkeitslenkung etc.).
Aus meiner Sicht ist die Auseinandersetzung mit buddhistischen Achtsamkeitskonzepten schließlich sehr anspruchsvoll. Sie konfrontieren uns mit Vorgaben, die nicht leicht zu verstehen sind, wenn man mit der indischen Philosophie nicht vertraut ist (Erlösungslehre, Einheitsdenken, Tendenz zum Determinismus) und haben auch ausgesprochene Schwächen (z. B. in der Behandlung des Körpers und der Lebensfreude, der Individualität und der zwischenmenschlicher Beziehungen, des Lehrer-Schüler-Verhältnissses und der Ethik).
Achtsamkeit wurde auch außerhalb des Buddhismus, in anderen religiösen Kontexten und unter verschiedenen anderen Begriffen behandelt (Gegenwärtigkeit, Sammlung, Kontemplation und viele mehr). Einige meiner persönlichen Lieblingsautoren zum Thema Achtsamkeit waren keine Buddhisten (z. B. H. D. Thoreau und M. Buber) oder sind es nur noch in einem sehr kritischen Sinne (S. Batchelor). Soweit die Frage nach dem “muss man….”. Im Allgemeinen kann die Beschäftigung mit buddhistischen Lehren natürlich sehr wertvoll sein.
22. Ist der aktuelle Hype um Achtsamkeit in der Psychotherapie nicht alter Wein in neuen Schläuchen?
Nein, die aktuellen achtsamkeitsbasierten Therapien bemühen sich viel stärker als frühere Ansätze um ein klares, operationalisierbares Achtsamkeitsverständnis, sie versuchen die Arbeitsweise für viele Patienten zugänglich zu machen und für verschiedene Indikationen zu präzisieren. Sie bemühen sich um Evaluation, was sehr schwierig ist. Auch wenn es heute viele Vermischungen mit Psychoedukation, Imaginationstechniken oder aufdeckenden Therapien gibt, so hat Achtsamkeit doch eine eigenständige therapeutische Bedeutung bekommen und es wird daran geforscht, herauszufinden, wie effektiv sie selbst ist. Hier gibt es noch viel zu klären und diese Arbeit ist gerade erst in Gang gekommen.
Bedauerlich ist allerdings, dass viele Autoren heute, die über Achtsamkeit schreiben, nichts von den älteren Arbeiten, vor allem aus der humanistischen Tradition, wissen oder sie einfach übergehen. Das ist ein Verlust, weil sie so nur sehr selektiv und verdeckt auf frühere Erfahrungen zurückgreifen und wenig mit der “Weisheit des Körpers”, mit Kontakt, Musik, Natur usw. anfangen können. Das hat zu einer Verarmung geführt und macht manche aktuellen Achtsamkeitstherapien asketisch, kopflastig und unflexibel (s. dazu mein Text “Meditation und Psychiatrie. Über die Verseelung und Vergeistigung der Meditation”, auf dieser Homepage unter “download”).
Der aktuelle Boom ist einerseits sehr erfreulich, andererseits führt er auch zu Verwässerungen des Konzepts (Vermischung mit Imaginationsübungen oder suggestiven Praktiken) und zu Engführungen (Achtsamkeit als Neutralisierung, “innerer Weg”). es fehlen kritische Auseinandersetzungen.
Verschulungen und starke Manualisierungen haben diese Tendenz verschlimmert. Manualisierungen sind für wissenschaftliche Zwecke durchaus sinnvoll, aber weniger für die alltägliche therapeutische Praxis mit ihren unterschiedlichen therapeutischen Situationen, Therapeuten und Patienten. Hier helfen aus meiner Sicht eher der Austausch über Erfahrungen, die Empfehlung von Schwerpunkten, vielfältige Übungen, konkrete und dezentrale Projekte vor Ort. Aber ich persönlich bin optimistisch, dass sich die Vielfalt und Kreativität der Achtsamkeitsarbeit durchsetzt. Ich hoffe, dass eines Tages viele Therapeuten und Berater die Arbeit mit Achtsamkeit in ihre eigene Tätigkeit integrieren – so wie es für ihre individuellen Patienten, sie selbst und die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, passend ist.
23. Bedeutet Achtsamkeit Nicht-denken?
Nein. Achtsamkeit bedeutet wahrnehmen, was geschieht. Wenn es Denken ist, achten Sie eben auf das Denken. Wenn Sie eine Übung machen wollen, bei der es um Spüren oder Wahrnehmen geht und Sie denken dann an etwas Anderes (“heute abend..”), dann nehmen Sie dieses Denken wahr und kehren Sie in Ruhe mit einem “und” zu dem Übungsvorschlag zurück (s. o. Antwort auf Frage 4). In diesem Moment ist das Spüren nicht besser als das Denken. Beides hat seinen Platz so wie es gerade geschieht. Wenn Sie sehr viel und sehr oft an etwas Anderes denken, dann ist das eben so. Sie nehmen es wahr, achtsamer können Sie nicht sein.Es kann sein, dass Sie auf Dauer bei bestimmten Übungen weniger denken. Auch gut! Das geschieht dann von selbst und Sie nehmen eben diese Veränderung wahr und schauen wie es Ihnen damit geht. In der Praxis der Achtsamkeit ermöglichen wir Veränderungen und lassen sie zu, wir führen sie nicht gezielt herbei.
Es kann wichtig sein (und gehört zu dem Konzept der Achtsamkeit), zu erkennen, dass Gedanken immer auch Konstruktionen sind (natürlich keine beliebigen, sie entwickeln sich in der Regel aus dem Kontakt mit Menschen und mit der Wirklichkeit).
In bestimmten spirituellen Kontexten (z. B. dem Zenbuddhismus oder dem sog. Quietismus in der chrisitlichen Tradition) spielt diese Einsicht eine besondere Rolle. Das Loslassen aller Konstruktionen wird in ihnen besonders intensiv erlebt und gelebt (s. mein Text “Erleuchtung – Erlebnis und Einsicht”, auf dieser Homepage unter download).
24. Was bedeutet “Hier und Jetzt”? Was ist mit “Gegenwärtigkeit” gemeint?
Ein häufiges Verständnis von Gegenwärtigkeit ist: Lebe im Hier und Jetzt. Bleibe in der Gegenwart, in der Gegenwart spielt das Leben, im Hier und Jetzt entsteht sogar Zeitlosigkeit.
Aber: Was ist dieses Jetzt? Ist ein Zeitpunkt gemeint? Gewöhnlich wird etwa eine Dauer von 3 Sekunden als Gegenwart empfunden und die spontane Aufmerksamkeitsspanne beträgt ca. 8 – 10 Sekunden. Setzt sich die Gegenwart etwa aus lauter solchen kleinen Momenten zusammen wie eine Kette aus ihren Gliedern? Ist es sinnvoll, eine Tätigkeit, ein Gespräch, eine Melodie, die Bewegung der Wolken am Himmel in Momente zu zerlegen und sich von Moment zu Moment zu bewegen? Können wir so einen Vortrag verstehen oder einen Sonnenaufgang erleben?
Achtsamkeit bedeutet, den Dingen, Menschen und sich selbst ihre Zeit zu lassen, nicht nur Momente und auch nicht einen Moment nach dem anderen. Die Zeit ist in den Dingen, in der Natur, in der Musik, in anderen Menschen, in unseren Gefühlen, in unserem Körper. All das besteht aus Abläufen, Rhythmen, Beständigkeiten, Wiederholungen und Brüchen. Ein Sonnenaufgang hat seine Zeit, ein Blick oder ein Leben, Trauer, Wut und Glück haben ihre Zeit und jeder Mensch bewegt sich und empfindet in seinem Tempo. Wir haben unsere Individualität durch die Zeit, die wir sind. Die Zeit ist in der Welt, in uns und in unserer Beziehung zur Welt. Wenn wir sie dort lassen, kann sie auch nicht verloren gehen.
Es geht nicht darum, die Zeit zu pulverisieren, nicht um einen Abwehrkampf gegen Vergangenheit und Zukunft, nicht um ein Verweilen in einem abstrakten Moment oder Ausschnitt der Zeit, sondern um das Umschalten in eine andere Lebensweise und ein anderes Zeiterleben, in denen es nicht um Verplanung, Nutzung und Verrechnung von Zeit geht, sondern um die Öffnung für die jeweils nächste Situation. Das „Hier und Jetzt“ ist eine bewusste Erfahrung einer anderen, nämlich qualitativen Zeit, keine Flucht vor der Zeit in den Augenblick.
(Auschnitte aus “Wo bleibt die Zeit?” Auf dieser Homepage unter download)
25. Geht es in der Achtsamkeit darum, “zu sich zu kommen” oder “bei sich zu bleiben”?
Ja, aber….
Achtsamkeit führt dazu, dass Sie sich besser spüren, Ihre Gedanken und Gefühle wahrnehmen. Das ist ausgesprochen wertvoll und kommt in unserem Alltag sicher zu kurz. Es ist eine Voraussetzung für Selbstfürsorge und Therapie.
In der Regel und vor allem im Alltag geschieht dieses Sich-spüren aber im Kontakt mit etwas Anderem, mit anderen Menschen, Gegenständen, Natur, mit Prozessen und Ereignissen. Es gilt dann, sich selbst im Kontakt und in Resonanz mit diesem Anderen zu spüren und wahrzunehmen. Umfassende Achtsamkeit berücksichtigt innere ebenso wie äußere und relationale Achtsamkeit (Achtsamkeit auf die Interaktion selbst). Sie läuft auf ein differenziertes Wahrnehmen hinaus.
In Achtsamkeit müssen uns nicht auf eine soziale und biographische Identität festlegen, wir nehmen nur wahr, was jetzt gerade geschieht, wie wir in dieser Situation wahrnehmen, empfinden, reagieren. Es geht auch nicht darum, herauszufinden, wer wir sind, wir müssen uns nicht analysieren oder die Selbsterfahrung vertiefen.
Manchmal wird in Achtsamkeitskonzepten mitgeteilt: “Du bist nicht dein Gefühl” oder “Du bist nicht dein Gedanke”. Das ist wörtlich genommen falsch. Wir sind immer auch unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Körper und es ist gut, all das achtsam wahrzunehmen, zu akzeptieren und von den Gedanken und Gefühlen anderer Menschen zu unterscheiden. Wir sind nicht nur unser Körper, aber ohne unseren Körper sind wir nicht die, die wir sind. Wir sollten zu unserem Körper und damit zu einem wesentlichen Teil von uns stehen. Wir sind alle verschieden und auch das ist gut so. Gerade die Andersheit des Anderen fordert zur Achtsamkeit auf und heraus. Es ist richtig: Wir sind nicht nur dieses Gefühl und dieser Gedanke, die sich gerade einstellen. Wir haben viele Aspekte, die einander folgen oder auch (und durchaus widersprüchlich) nebeneinander bestehen. Auch das gilt es zu akzeptieren.
Achtsamkeit passt nicht zu der Idee einer Auflösung in einer größeren Ganzheit (wie sie in Tranceerlebnissen und entsprechenden spirituellen Praktiken geschehen kann), sondern sie führt zu einem differenzierten Wahrnehmen unserer selbst und der Umgebung.Geringschätzung des eigenen Selbst, Aufgabe oder Auflösung des Selbst zu Gunsten eines großen Ganzen sind therapeutisch und moralisch sehr problematisch und wurden politisch immer wieder mißbraucht. Nur, wenn wir uns spüren und wahrnehmen (unsere Gefühle, Bedürfnisse, Resonanzen auf Ereignisse, Gedanken, Fantasien usw.) können wir für uns sorgen und für uns und für andere die Verantwortung übernehmen. Mit Mystik im Sinne einer Selbstauflösung und mit Einheitserleben im Sinne einer Entdifferenzierung ist Achtsamkeit nicht zu vereinbaren. Wir sind keine Tropfen, die sich im Ozean auflösen und wir sollten dafür sorgen, dass es so bleibt. Das Erleben von Verbundenheit ist eine andere Sache.
Ist Achtsamkeit anstrengend?
F: Ich finde Achtsamkeit anstrengend.
A: Was ist für Sie anstrengend?
F: Ich muss mich ja auf etwas konzentrieren, das ich nicht besonders spannend oder sogar unangenehm finde: Atmen, Gehen, Alltagsgeräusche, Anspannung, Schmerzen usw.
A: Sie müssen sich nicht „konzentrieren“, auch nicht wenn Sie fokussierte Achtsamkeit praktizieren wollen. Versuchen Sie es so: Sie suchen sich einen Aspekt der Situation heraus, in der Sie sich gerade befinden – sagen wir Ihre Atmung oder die Geräusche. Sie schlagen sich vor, immer wieder zu den Geräuschen zurückzukehren. Und nun nehmen Sie wahr, was geschieht. Manchmal sind Sie bei den Geräuschen und dann denken Sie wieder über irgendetwas nach oder stellen fest, dass Sie Kopfschmerzen haben oder Sie kommentieren mental die Übung oder oder oder. Was immer geschieht, Sie nehmen es jeweils wahr und dann kehren Sie mit einem „und“ zum Hören zurück. Perfekt, das ist schon alles. Es geht nicht um den Fokus, es geht um die Haltung! Der Fokus ist keine Aufgabe, sondern eine Hilfe, ein Vorschlag, eine Einladung, eine Anregung, um in die Gegenwart zu kommen, mehr nicht. Es geht um die Haltung der Achtsamkeit und Achtsamkeit ist eine Haltung der schwerelosen Präsenz.
Schwierig wird es, wenn Sie Ihr Bewusstsein von etwas fernhalten oder sich möglichst lange auf eine Sache konzentrieren wollen. Dann haben Sie einen inneren Dialog, in dem Sie sich antreiben und einen Maßstab im Kopf haben wie es werden sollte. Vergleichen und Bewerten, Verfolgen eines Ziels und die damit verbundene Anstrengung geschehen spontan und Sie können das alles weder verhindern noch unter Kontrolle bekommen. Versuchen Sie es daher gar nicht erst, nehmen Sie wahr, was gerade geschieht, erinnern Sie sich an die Haltung der Achtsamkeit und laden Sie sich zu dem nächsten Moment ein.
Wenn Sie weite Achtsamkeit praktizieren, dann haben Sie es noch leichter, weil Sie gar nicht in die Gefahr kommen, sich um einen Fokus zu bemühen.
F: Aber so vorzugehen, ist für mich ungewohnt und ist es denn nicht immer anstrengend, eine neue Gewohnheit zu entwickeln?
A: Das kommt wohl auf die Gewohnheit an. Es ist nicht anstrengend, sich anzugewöhnen, regelmäßig Alkohol zu trinken oder auszuschlafen oder in der Sonne zu liegen, jedenfalls für die meisten Menschen nicht. Ich halte es auch für ein gesellschaftliches Vorurteil, dass Lernen schwierig sein muss und dass eine Leistung nur etwas wert ist, wenn sie mit Anstrengung erworben wurde. Für wichtige Fähigkeiten trifft es nicht zu: Sitzen, gehen, sprechen, singen, sich auf Musik bewegen, sehen, hören usw. Wir lernen die meisten Dinge ohne Absichten und Anstrengungen, nebenbei und weil es Spaß macht. Kinder lernen schneller selbstständig zu essen, wenn sie mit dem Essen spielen dürfen. Sie „üben“ auch nicht.
F: Aber Achtsamkeit ist eine besondere Kunst – wie Sie selbst sagen -, also eher so etwas wie Klavierspielen oder eine Sprache lernen und das ist doch weiß Gott manchmal anstrengend.
A: Für diese Beispiele ist das richtig. Wenn Sie sich anstrengen, lernen Sie wahrscheinlich eine Sprache schneller. Das Besondere der Achtsamkeit ist es aber, dass es sich bei ihr gerade umgekehrt verhält. Je mehr Sie sich anstrengen, desto schlechter kommen Sie voran. „Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“. Bei der Achtsamkeitspraxis helfen Einsicht, Praxis und Geduld, nicht Anstrengung. Dazu gibt es eine schöne Geschichte:
„Ein Mann fragt einen Zen-Lehrer: `Wie lange werde ich brauchen, um zur Erleuchtung zu gelangen?´ Der Zen-Lehrer antwortet: `Ungefähr 10 Jahre.´ Der Mann: `Und wie lange brauche ich, wenn ich mich richtig anstrenge und mein Bestes gebe?´ Der Zen-Lehrer: `20 Jahre.´ Der Mann: „Wie? Das ist doch ungerecht. Wenn ich mir richtig Mühe gebe, brauche ich länger!?“ Der Zen-Lehrer: `Ich glaube, bei dir dauert es 30 Jahre.´“
F: O. k., o. k., aber dann brauche ich vielleicht einen mittleren Weg – nicht zu viel, nicht zu wenig Anstrengung. Sie werden doch nicht leugnen, dass es alleine schon anstrengend ist, überhaupt etwas mit Bewusstsein zu tun. Es ist doch viel einfacher, sich zu zerstreuen oder mehrere Dinge auf einmal zu tun als nur eine Sache ganz bewusst, jedenfalls wenn man es nicht gewohnt ist.
A: Überhaupt etwas mit Bewusstsein zu tun, ist doch noch nicht anstrengend. Wenn Sie morgens wach werden, schaltet sich Ihr Bewusstsein wieder ein, einfach so, die normale Bewusstseinshelligkeit entsteht von selbst und wenn Sie vor etwas Angst haben, sind Sie auch leicht mit dem Bewusstsein dabei. Also geht es eher um den Inhalt, der die Sache schwierig machen kann. Und darüber haben wir schon gesprochen. Versuchen Sie nicht, besonders bewusst zu sein. Wenn Sie allerdings müde sind, ist es etwas Anderes, dann wird die Praxis der Achtsamkeit schwierig.
F: Sie sagen also, Achtsamkeit ist nie anstrengend, wenn man nicht zu müde ist.
A: Ja, entweder Achtsamkeit oder Anstrengung. Ich bestreite natürlich nicht, dass man sich bei der Praxis der Achtsamkeit anstrengen kann. Aber je mehr sie sich anstrengen, umso weniger sind Sie achtsam.
Allerdings kann es im Vorfeld sinnvoll sein, sich anzustrengen. Sie müssen sie ja die Übungspraxis irgendwie in Ihrem Leben unterbringen – als formale oder als informelle Achtsamkeit. D. h. Sie müssen daran denken zu üben, jedenfalls solange Achtsamkeit keine gewohnte Haltung geworden ist. Sich immer wieder an die Haltung der Achtsamkeit zu erinnern und mit der Übungspraxis zu beginnen, kann wirklich anstrengend sein. Es fordert eine gewisse Motivation und Disziplin und daran scheitern auch manche. Aber wenn Sie mit der Praxis der Achtsamkeit beginnen, ist Anstrengung überflüssig und wenn Sie das Konzept verstanden haben, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass Sie in der Praxis scheitern.
Michael Huppertz, Februar 2014